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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Hiddensee
Nachdem sich die Vereinigten Staaten von Amerika offiziell von Handelspartnern zu Handelsfeinden mehr oder weniger der ganzen Welt erklärt haben, bleibt die Zeit das verbleibende Maß der Dinge. Die Zeit wird weisen, auf welche konkreten Ergebnisse die Flottille an Politikerinnen und Ökonominnen sich einigen können, die momentan an der Umsetzung der von keinerlei rationaler Überlegung bestimmten Zolldiktate arbeitet.
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Das Improvisationstheater des Lastwagenhupen-Wrestlers muss eigentlich bei allen Freundinnen des Absurden reine Begeisterung auslösen. Bei anderen hält sich die Freude in Grenze; irgendwo habe ich gelesen, dass die Textilwirtschaft des südafrikanischen Landes Lesotho und sein einziger Industriezweig soeben vor die Hunde gegangen sei, weil die US-amerikanischen Abnehmerinnen schon nach der Ankündigung der ersten Strafzölle im April alle Bestellungen gestrichen hätten. Für Lesotho wurde damals ein Satz von 50 Prozent in Aussicht gestellt. Dort ist also der Erfolg der Vergrößerung von Amerika schon mal eingetreten. Im benachbarten Südafrika selber ächzen die Bauersleute unter den verhängten Einfuhrzöllen; da es sich hierbei zu schönen Teilen nach wie vor um weiße Großgrundbesitzer handelt, piesackt die ambulante Gallenblase also in erster Linie jene Menschen, welche er vor einem Vierteljahr vor der Verfolgung durch die südafrikanische Klassen- und Rassenjustiz schützen wollte. Aber eben, das wissen wir, wir wissen, dass bei der Lastwagenhupe keinerlei Rationalität eine Rolle spielt mit Ausnahme von Macht, eine hübsche Portion Rachsucht sowie das überwältigende Bedürfnis, jeden Tag auf der ganzen Welt in den Schlagzeilen zu stehen. Wir hatten das, wie ich schon mehrmals erwähnt habe, vor zwanzig Jahren genau gleich mit Berlusconi, selbstverständlich nicht im vergleichbaren globalen Ausmaß, aber die Symptome waren identisch; und auch damals ging mir immer dann etwas ab, wenn der Berluscazz, wie man ihn auf Italienisch nannte, also den Berluspenis oder Berlusschwanz, wenn der Berluscazzo also zwischendurch mal von der Bildfläche verschwand; man gewöhnt sich so sehr an diese Sorte von Abartigkeit, welche das genaue Gegenteil dessen verkörpert, was man selber im Leben hoch hält, dass das Leben fast keinen Sinn mehr hat, wenn sie fehlt, wenn auch nur vorübergehend.
Nun, in Sachen Berlusconi hat man sich mit dem allmählichen Verblassen abgefunden, man hat gelernt, mit Techniker-Regierungen zu leben, egal, ob sie eine parlamentarische Mehrheit hatten oder nicht; man hat aber immer einigermaßen verstanden, welchem übergeordneten Zweck die verfolgte Politik diente, im Fall von Italien war dies kaum einmal die Idee, Italien wieder so groß zu machen wie zu Zeiten des Imperium Romanum, sondern es ging konstant um das Bemühen, den Stall der Politik auszumisten, wobei in der Regel vor allem Methoden gewählt wurden, die den vorne zum Stall hinaus bugsierten Mist hinten wieder hinein schaufelten, während die Kühe selber schon längstens keine Milch und kein Fleisch mehr gaben und überhaupt verschwunden waren. Diesen Eindruck hatte man tatsächlich; und ebenso tatsächlich blubberte die italienische Wirtschaft selbstverständlich die ganze Zeit über durchaus leistungsfähig vor sich hin. Das CIA-Fact-Book nennt sie einkommensstark und Bestandteil der EU-Kernwirtschaft mit Schwergewichten in den Bereichen Dienstleistungen, Herstellung und Tourismus; das bescheidene Wachstum sei einem Netto-Exportüberschuss, der niedrigen Inflation sowie den Investitionen der Europäischen Union zu verdanken. Der Arbeitsmarkt dagegen berge die bekannten Probleme mit einer überalterten Arbeitnehmerinnenschaft und der Knappheit an Facharbeiterinnen; daneben vermerkt das Fact Book die hohe öffentliche Verschuldung. Das reale Bruttoinlandprodukt liegt bei 3 Billionen Euro, womit Italien weltweit den 11. Rang unter den Nationen einnimmt. Die Technikerregierungen sind abgelöst worden von der nicht mehr so ganz neofaschistischen und noch nicht einmal so richtig ultranationalistischen Regierung Meloni, deren Stabilität aussenstehende Beobachter erstaunt, die Opposition weinen lässt und ansonsten eben an die Tradition der Technikerregierung anschließt. Giorgia Meloni ist als Regierungschefin die erste Technikerin in einer längeren Reihe von Romano Prodi bis zu Mario Draghi, hat aber im Gegensatz zu Mario Draghi keine Berufserfahrung in internationalen Institutionen wie Goldman Sachs und der Europäischen Zentralbank; man kann davon ausgehen, dass ihr Stab an Beraterinnen und Beraterin die entsprechenden Erfahrungen ihrer Vorgänger anzapfen kann, solange sie keinen Blödsinn anstellt.
Bei der Lastwagenhupe verhält es sich etwas anders, sie weiß alles besser und versucht das auch durchzusetzen, was angesichts des völligen Mangels an Wissen etwas schwierig ist. Manchmal stelle ich mir vor, welche Verrenkungen im Stab der Lastwagenhupe täglich notwendig sind, um die Anfälle des selbständig gewordenen Megaphons in eine halbwegs realisierbare Vorgehensweise umzusetzen. Und darum handelt es sich tatsächlich: nicht um Ein-, sondern um Anfälle einer Erkrankung in den Hirnwindungen, welche von langjähriger TV-Erfahrung in einer Form gehalten wird, welche das Publikum in den Vereinigten Staaten soweit noch erträgt. Was heißt da erträgt: die lieben den nach wie vor, weil er ihnen in rauen Mengen den Quatsch liefert, der ihre eigenen Köpfe betreibt. Das ist auch heute, fast ein Jahr nach seinem Wahlsieg, immer noch erstaunlich und bedauerlich. Was aber innerhalb der staatlichen Organisation der Vereinigten Staaten tatsächlich von sich geht, kann man nur schwer einschätzen. Auch hier bleibt die Zeit das Maß der Dinge.
Nachdem wir uns jetzt ein paar Monate gegruselt haben und in letzter Zeit auch durchaus geängstigt, sollten wir uns wieder einmal daran erinnern, dass es auch ein Leben jenseits der Lastwagenhupe gibt. Bei den Strafzöllen handelt es sich vorderhand noch nicht um Akte wie die Bombardierung Dresdens oder vier Jahre zuvor die Bombardierung Londons. Es ist absehbar, dass wir aus diesem Theater halbwegs unbeschädigt heraus kommen. Was sind aber die Freuden und Probleme des Alltags im Jahr 2025? Wer will, kann sich dazu bei den Praxistipps der Qualitätszeitschrift Focus Rat holen, welche einen Einblick in die Prophezeiungen des Nostradamus für das Jahr 2025 gewähren. Das meine ich aber nicht. Die Frage, die sich mir stellt, ist die: Gibt es auf absehbare Zeit weiterhin gute Musik und gute Bratwürste? Kommt es weiterhin zu freudigen Ereignissen oder Dramen im zwischenmenschlichen Bereich? Können die Thüringerinnen weiterhin frei im Thüringischen Wald Verstecken spielen, ohne dass sie von einer Kolonne illegaler minderjähriger nordafrikanischer Einwandererinnen ausgeraubt, entmannt oder vergewaltigt werden? Scheint die Sonne auch in diesem Jahr so auf den Kartoffelacker, dass der die Früchte wachsen lässt? Wie wird der Wein in diesem Jahr? Oder auch: Was braucht der Bauer Kruse, dass er für einmal nicht so griesgrämig aus der Wäsche schaut?
Ich weiß das alles nicht. Was ich weiß, ist, dass das Weltreisen epidemische Züge angenommen hat. Wenn wir ausnahmsweise einmal nicht von den Umweltschäden des Flugverkehrs sprechen wollen – beziehungsweise erwähnen wir kurz die Zahlen: Weltweit ist die Fliegerei für sieben Prozent des Ausstoßes an Treibhausgasen verantwortlich, schreibt der WWF Schweiz, und in der Schweiz aus welchen Gründen auch immer für 27 Prozent –, dann ergibt diese Reiserei im Idealfall positive Effekte wie das Verständnis für andere Kulturen oder immerhin und für Bauer Kruse das Wissen darum, dass hinter Kuhschnappel die Welt nicht aufhört oder dass es, für die Menschen in Sachsen, auch elbaufwärts noch Länder und Menschen hat. Vermutlich kann man sich in Teneriffa tatsächlich besser vom Stress in der Chipfabrik erholen als in Gera, das es nach wie vor nicht in die Hitliste der Ortschaften mit Übertourismus geschafft hat. Was mich angeht, so habe ich mich kürzlich vom Stress des öffentlichen Klimas in Zürich, das vollgesogen ist mit Gesprächen über Reisen nach Vietnam, Korea, Kirgisien, Tadschikistan, Kenia, Lesotho, Südafrika, Algerien, die Türkei, häufig nach Island, gerne nach Skandinavien und so weiter und so fort, erholt mit einer einfachen Bahnreise nach Stralsund und von da mit der Fähre auf die Ostseeinsel Hiddensee. Das ging auch und war tatsächlich erholsam, wenn auch um den Preis einer ausgesprochen Hering-lastigen Ernährung. Den Hering habe ich tapfer gegessen, er ist saftig und sauer und insofern schmackhaft, aber auf Dauer möchte ich ihn dann doch nicht gleichstellen mit der vietnamesischen Küche. Für die vietnamesische Küche braucht man sich heute dank der internationalen Verbreitung von Kochbüchern oder auch dank der internationalen Migration nicht mehr nach Vietnam zu begeben, man kann vietnamesisch in hoher Qualität auch in Erfurt oder in Zürich essen. Hering dagegen habe ich in Zürich bisher erst einmal in einem schwedischen Restaurant gegessen; überhaupt ist die skandinavische Küche hier schlecht vertreten, da muss ich wohl einmal bei der Botschaft protestieren, denn ich erinnere mich an eine weitere Bahnreise, die unter anderem nach Stockholm führte, wo wir das beste Ribeye-Steak gegessen haben, das mir je unters Messer und zwischen die Zähne gekommen ist. Serviert wurde das Ganze übrigens von einem Team aus zwei Kellnern, bestehend aus einem Herrn mit serbischer und einem anderen mit kroatischer Herkunft, die sich aber während der ganzen Mahlzeit kein einziges Mal gegenseitig die Messer in den Leib gerammt haben.
Was uns auch immer wieder erfreut, ist das Lesen. Meine Partnerin hat sich aus Anlass unseres Ausflugs nach Hiddensee an den alten Schunken mit dem Titel «Kruso» gemacht, der auf Hiddensee spielt zu Zeiten der DDR; ich selber pflüge mich im Moment durch einen Übersetzerinnen-Roman mit dem Titel «Babel», der halb realistisch und halb phantastisch im Oxford der 1830-er Jahre spielt und vor allem die ausbeuterischen Beziehungen des britischen Empire zu seinen Kolonien und letztlich zur ganzen Welt zum Inhalt hat, was sich streckenweise wie ein tagesaktueller Report zu den Vereinigten Staaten von Amerika liest, wobei im Roman das Edelmetall Silber eine wichtige und praktisch wundertätige Rolle spielt, während es bei den US-Amerikanerinnen eher die Rüstung und die Digitalindustrie ist. Daneben liegt auf meinem Tisch ein kleines Stück mit dem Titel «Kleine Abhandlung über das Wandern im Flachland», ein Text aus den 1930-er Jahren, und die beschriebenen Wanderungen spielen im ländlichen Milieu der Westschweiz, das auf jeden Fall identisch ist mit den Landschaften, welche euer Bauer Kruse täglich vor seiner Nase hat; vielleicht sollte man ihm diesen Text mal zukommen lassen? – Ich gehe allerdings davon aus, dass euer Bauer Kruse solche kruden ausländischen Texte gar nicht anfassen täte, auch wenn man sie ihm schenkte.
Übrigens ist mir in Hiddensee aufgefallen, dass auch dort keineswegs Übertourismus herrscht, sondern nur normaler Tourismus, und zwar erst noch autofrei, was mir als bekennendem Zugfahrer viel Vergnügen bereitet hat. Der Hiddensee-Tourismus hat aber eine weitere Eigenart, nämlich besteht seine Masse zur überwiegenden Mehrheit aus Bewohnerinnen Ostdeutschlands. Man taucht ein in ein Klima halbwegs familiärer Ruppigkeit, einmal abgesehen von der Gastronomie, welche in Hiddensee genau gleich freundlich ausgeübt wird wie andernorts. Dieses Klima erschien mir plötzlich wie eine Reproduktion früherer Herrlichkeit, als man noch ganz kommod umzäunt war von Schutzwällen und gegen Osten anderen protektionistischen Maßnahmen, welche das Gedeihen dieses familiären Klimas in der DDR ganz enorm befördert haben. Wie in allen Familien kann daraus Großes entstehen oder auch Kleines. Beim Großen denke ich vor allem an die Solidarität, an die Nachbarschaftshilfe, an das Verständnis für die Probleme der anderen und an die Hilfsbereitschaft. Beim Kleinen denke ich an die Ablehnung und an die Angst vor dem Fremden und vor den Fremden, welche vermutlich einen wesentlichen Bestandteil der Sympathien für die Allianz für Deutschland darstellt. An dieser Stelle eine wichtige Mitteilung für alle Anhängerinnen dieses rechtsnationalen Clubs: Die großen Sachen soll man unbedingt weiterhin pflegen. Es ist enorm wichtig, dass die Gesellschaft den inneren Zusammenhalt nicht administrativen Stellen oder Computerprogrammen überlässt; aus solchen Sozialstrukturen entstehen im Idealfall auch schöne kreative Lösungen, die man sogar zu Exportschlagern entwickeln kann. Dagegen die Angst vor dem und vor den Fremden – die muss man ablegen. Die Zeit der Wälle und Zäune kommt nicht wieder, auch wenn sich jenseits des Atlantik ein Geistesgestörter alle Mühe gibt, sie neu zu erfinden.
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Albert Jörimann
05.08.