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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Noch einmal Lewitscharoff

Vor etwas mehr als zwei Jahren hatte ich hier den Tod von Sibylle Lewitscharoff zum Anlass genommen, nicht über sie etwas zu äußern, sondern über die aktuelle Lage der Literatur, und zwar anhand des Buches «Populärer Realismus» von Moritz Baßler.

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Ich habe immer noch ein leicht schlechtes Gewissen Frau Lewitscharoff gegenüber, das genährt wird dadurch, dass ein Kollege mir unablässig seine unendliche Verehrung dieser Autorin kundtut und mir auch immer wieder das eine oder andere Büchlein vorbei bringt. Weshalb ich mich hier kurz vor ihr verneige und ebenso kurz ein paar Worte zum Beginn ihrer Poetikvorlesungen formulieren will, die unter dem Titel «Vom Guten, Wahren und Schönen» bei Suhrkamp herausgekommen sind, mein Exemplar stammt aus der vierten Auflage aus dem Jahr 2018 und gibt zwar die Orte Frankfurt und Zürich, nicht aber den Zeitpunkt genau an, zu welchem besagte erste Vorlesung gehalten wurde, sie trägt den Titel «Namen», und ich will gleich den Anfang zitieren:

«Werden wir bei unserem Namen gerufen, kehrt unser im Vagen herumtreibendes Ich, das unablässig in Aufflug- und Unterwindungsgeschäften unterwegs ist, augenblicks zu uns zurück. Beim Namen gerufen, sind wir in der innersten Substanz berührt, die uns zusammenhält. (…) Beim Namenszuruf werden wir erkannt und fühlen uns erkannt.» Etwas weiter: «Nachdem er von der verbotenen Frucht gekostet hat, wird Adam von Gott bei seinem Namen gerufen: Adam, wo bist du?, und spätestens da weitet sich Adams schuldbewusste Seele und füllt sich mit hochmögendem Sein. Es ist, als wäre mit dem ersten biblischen Namenszuruf die gesamte prekäre Existenz des Menschen enthüllt, Adams Verlangen nach Erkanntwerden und Geborgensein im Namen, aber auch Scham und Angst, seine Sünden komme ans Tageslicht.» Und noch etwas weiter: «Die biblischen Namen sind sprechend. In Jakob kommt zum Beispiel der Fersenhalter zum Ausdruck, in Moses der aus dem Wasser Gezogene. Niemals war der Name Schall und Rauch, niemals nur ein leicht obenauf sitzendes Häubchen, zufällig und ephemer, immer war zwischen dem Namen und dem, der ihn trägt, eine innige Beziehung gestiftet.»

Das muss für diesen Dienstagmorgen reichen, denn die Passagen zeigen bereits in der nötigen Schönheit die Befähigung der Autorin und Poetikvorleserin auf, einen poetischen Schimmer, den man außerhalb der Poetik Schwurbel nennen würde, über die Dinge zu legen. Unser im Vagen herumtreibendes Ich, das unablässig in Aufflug- und Unterwindungsgeschäften unterwegs ist – bitte sehr, ich persönlich kenne keine einzige Person, deren Ich im Vagen herumtreibt. Man könnte einen physikalischen Vergleich wagen und sagen, dass unser Ich auf vergleichbare Art und Weise in jenem Raum herum treibt, der unsere Existenz bildet, wie ein Elektron im Gitterkäfig seines Atoms. Keineswegs und niemals trullert unser Ich im Unbestimmten herum. Allenfalls könnte man noch von der eigenen Unbestimmtheit des Ich sprechen; die Beschäftigung damit hat ihren Grund und betreibt wirtschaftlich gesehen halbe Industriesektoren im Gesundheitswesen, wenn man so will: auch im wirtschaftlich vergleichsweise viel weniger bedeutenden Literaturwesen, aber insgesamt muss man zu diesem Einstieg einfach festhalten, dass er unhaltbar ist.

Das tut nichts zur Sache, denn die Aufgabe der Poetik ist keine physikalische, hier gilt ein schöner Klang allemal mehr als eine logische Gedankenführung, respektive die Logik der Abläufe, die es auch in der Literatur gibt, erfordert Stringenz auf einer anderen Ebene als jener der Logik selber. Auch das von Lewitscharoff gezeichnete Bild des menschlichen Ich-Subjekts, das sich immer beim Namensaufruf mit seiner Substanz zusammenrauft, hat eine gewisse Schönheit, allerdings eine Schönheit, welche darauf verweist, dass Frau Lewitscharoff nie in der Bundeswehr gedient hat, denn dort hat der Namensaufruf tatsächlich mit der Zusammenraufung des Subjekts zu tun, aber nicht zu dem Zweck, vorübergehend jene Einheit zu bilden, welche theoretisch das Subjekt ausmacht, sondern im Gegenteil dieses Subjekt zu annihilieren und zum Objekt auszurufen. «Soldatin Lewitscharoff!», da kehrt nicht das Ich zurück zu Sibylle, sondern hochmögendenfalls das Es.

Dass Frau Lewitscharoff am Anfang auf den Anfang zurückgeht, nämlich auf die Schöpfungs­ge­schich­te, kann man nachvollziehen; es ist aus dieser Geschichte schon mancher hübsche Vergleich und überhaupt aus der Bibel schon mancher Josephsroman geschrieben worden. Sogar Robert Crumb hat die Genesis gezeichnet, allerdings ohne den Verweis auf den Fersenhalter im Namen Jakobs oder auf den aus dem Wasser gezogenen Moses. Ob so etwas nun selbstredend, also auf sich selber verweisend ist? Es gibt bekanntlich noch andere Schöpfungsgeschichten, auf welche sogar das christliche Abendland hin und wieder zugreift, namentlich die Götterwelt der Antike, wo mir Frau Lewitscharoff vermutlich auch posthum die Antwort schuldig bleiben wird auf die Frage, worauf denn der Name Hera verweise, also jener der Gattin und Schwester von Zeus. Das ist zugegebenermaßen eine dumme Frage, denn der Name Adam hat ja auch keine Herkunft und kein Bezugssystem, eben im Gegensatz später zu Moses, Adam ist so etwas wie ein Ur-Name. Trotzdem. Frau Lewitscharoffs Poesie trägt nur im Rahmen biblischer Erzählungen, und auch dort nur schwach. Ist der Name wirklich immer innig an seinen Träger gebunden, auch wenn der Kevin heißt oder Lara oder Anna? Neben meiner grenzenlosen Bewunderung für die einfachen Leute, nämlich im Rahmen eines wirklich demokratischen Systems, gibt es immer wieder Anlass zu Zweifeln an diesen Leuten, von dem Punkt an, wo sie anfangen, Donald Trump zu wählen oder mit dem bayrischen Ministerpräsidenten gegen den Klimaschutz zu wittern und zu wettern. Sind das wirklich jene Subjekte der Demokratie, bei denen sich das Ich auf Namenszuruf mit seiner Trägerin vereint? Ich habe da meine Zweifel.

Davon abgesehen habe ich grundsätzliche Einwände dagegen, die Bibel als literarische oder histo­ri­sche oder philosophische Vorgabe zu benutzen. Wo so etwas hinführt, sehen wir gegenwärtig in Eretz Israel. Bei allem Respekt vor den literarischen, historischen und philosophischen Leistungen von Laiinnen und Theologinnen in den vergangenen zweitausend Jahren, die sich auf die Bibel abstützten, kann ein aufgeklärter Geist heute nicht einfach so darauf Referenz nehmen.

Frau Lewitscharoff greift später im Text auch die antike Götterwelt auf und diskutiert manchen Unterschied zwischen den dieser zugehörigen und den jüdischen Entstehungsgeschichten. Dabei verwässert sich tendenziell auch die Namens-Nomenklatur; zwar haben solche Namen eben neben der Bezeichnung des Bezeichneten gerne auch noch eine symbolische Dimension, aber eben, je länger der Tag dauert, desto mehr Symbole bevölkern die Geisteswelt, bis wir am Schluss genug davon haben und nur noch darauf warten, dass wir die Dinge und auch die Subjekte wieder bei ihrem normalen Namen rufen können, ohne dass die innerlich «Hier!» rufen müssen.

In einer späteren Vorlesung kommt Sibylle Lewitscharoff mit einem Zitat von Georg Christoph Lichtenberg, das mir ebenso gut gefällt wie ihr, weshalb ich es ebenfalls zitiere: «So wie Linné im Tierreiche könnte man im Reiche der Ideen auch eine Klasse machen, die man Chaos nennt. Dahin gehören nicht sowohl die großen Gedanken von allgemeiner Schwere, Fixsternstaub mit sonnenbepuderten Räumen des unermesslichen Ganzen, sondern die kleinen Infusions-Ideechen, die sich mit ihren Schwänzchen an alles anhängen und oft im Samen der Größten leben und deren jeder Mensch, wenn er still sitzt, eine Million durch seinen Kopf fahren sieht.» Frau Lewitscharoff nennt diese beiden Elemente, den Maximalismus des Universums und den Minimalismus der Infusions-Ideechen, unentbehrlich für die Literatur: «der Traumblick in den großen, großen Himmel und der Scharfblick auf das Schmutzrändchen, das unter unseren Fingernägeln sitzt und in dem es bei noch näherem Blick ebenso wimmelt und west wie im ganzen Menschen.» Um fortzufahren: «Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass bei allen Spielereien und Launen der Literatur, die ja erwünscht sind, weil sie den sterilen Folgeverlauf der Wenn–Dann-Beziehungen knacken, es dennoch darum geht, die Wahrheit zu ergründen.» Und das wiederum dünkt mich nur allzu wahr.

What else, if not Espresso? In Tel Aviv haben am Sonntag laut Angaben der Organisatorinnen eine halbe Million Menschen gegen den Krieg in Gaza protestiert, wobei das so nicht richtig ist: Sie forderten die Befreiung der Geiseln. Aber per Saldo ist das doch immerhin ein Lebenszeichen von jener Zivilgesellschaft in Israel, die wir zunehmend an die rechtsextreme antisemitische zionistische Siedlermeute verloren glaubten. Nützen wird es in der Sache nicht viel, aber immerhin. In Serbien hetzt der dicklippige Präsident Vucic seine Schlägertruppen auf die Oppositionsbewegung und schreit Zeter und Mordio, wenn sich diese tatsächlich gegen seine Fußball-Hooligans wehrt. Das ist an sich nichts Neues, aber interessant wird es sein zu verfolgen, wie die normalen Serbinnen und Serben auf Vucics Vorgehen reagieren. Sein politischer Weggefährte Milorad Dodic von der serbi­schen Abteilung in Bosnien Herzegowina wurde verurteilt und müsste sein Amt als Präsident dieser Abteilung abgeben; auch hier verfolgt man mit Interesse, was daraus wird. Vom Trump nichts Neues bis auf die Meldung, dass die Zölle seit gewisser Zeit tatsächlich Geld in die Staatskasse der Vereinig­ten Staaten spülen; mit diesem Aspekt hatte ich mich bisher noch gar nicht beschäftigt. Die Europäische Union exportierte letztes Jahr Waren für über 500 Mia. Euro in die USA; bei einem Zoll von 15% fallen daraus 75 Milliarden Zusatzeinnahmen an. Das ist noch nicht unermesslich viel und reicht keineswegs aus, um einen wesentlichen Beitrag zum Abbau der aufgelaufenen Schuldensumme zu leisten, aber immerhin; ein bisschen Kleingeld, um den Kumpels das eine oder andere Steuergeschenk zu machen, ist dann doch vorhanden. Davon abgesehen ist es nach wie vor einfach nur dumm, über Äußerungen oder Handlungen der US-Regierung auch nur zu spekulieren.

Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
19.08.

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