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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Compact

Muss man mit Rechtsextremen sprechen, wie es der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer mit Markus Frohmeier, dem Spitzenkandidaten der Allianz für Deutschland in Baden-Württemberg vorgemacht hat? Nö. Es lohnt sich nicht, da setzt man den Atem lieber für andere Zwecke ein, zum Beispiel für das Singen der DDR-Nationalhymne oder zum Ausblasen der Kerzen auf der Geburts­tags­torte der lieben Erbtante. Ein bisschen wundern tut es mich aber hin und wieder schon, was die so von sich geben; manchmal kann man ein Wurmloch bohren und in deren ihr Paralleluniversum hinein horchen.

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Zum Beispiel das unlängst ent-verbotene Magazin Compact, das der ehemalige Antideutsche Jürgen Elsässer produziert, der in besseren Zeiten laut Wikipedia bei Publikationen wie Arbeiterkampf, Bahamas, Jungle World, Junge Welt, Konkret und Neues Deutschland mit­ge­wirkt hat, bis ihm nicht etwa die Corona-Pandemie, sondern schon ein Jahrzehnt zuvor die Finanz­krise eingefahren ist. Seit 2010 also Compact, des­sen Titelseiten vom September 2024 bis Septem­ber 2025 eingängig nichtssagende Schlagzeilen enthalten, nämlich, in der Reihenfolge ihres Auf­tre­tens: «Sieg!», mit einer Foto von Elsässer, ich nehme an, nach der Wiederzulassung des Titels durch das oberste Gericht, «Neue Deutsche Ju­gend», ebenfalls mit einer Foto von Elsässer, diesmal als pausbäckige junge Frau ver­klei­det, «Trumps Geheimplan», hier wird Elsässer als Lastwagenhupe abgelichtet, «Super» und drei Ausrufezeichen im Februar 2025 nach den Bundestagswahlen, da tritt an die Stelle von Elsässer Horst Hrubesch, nein, Thilo Sarrazin, ach was, Horst Chrupalla als Super­man, der Alice Weidel auf den Armen trägt; im April lautet die Schlagzeile «Frieden» und zeigt Jürgen Elsässer als Donald Trump und Wladi Putin gleichzeitig, im April kann Elsässer die Foto nicht selber zieren, da der Titel «Die Diktatorin» heißt, da muss Ursula von der Leyen herhalten, auf dem Juni-Titelbild prangt «Der letzte Papst», eine Rücken-Ansicht von Papst wohl Leo wohl vor den Ruinen von Gaza, im Juli tritt Elsässer als Benjamin Netanyahu auf, der Titel lautet «Der Brand­stifter», im August nimmt Elsässer wieder eine Frauenrolle ein, diesmal schwimmt er vor dem Hin­ter­grund dreier gierig starrender Afghanen mit panisch aufgerissenen Augen in seinem Swim­ming­pool unter der Schlagzeile «Frauen in Angst», und im September ist es Dr. Friedrich Merz per­sön­lich, der mit dem Titel «Der Totengräber» versehen wird. Das Inhaltsverzeichnis dieser aktuellen Nummer möchte ich dürftig nennen, abgesehen vom dummen Merz-Spruch von der stärksten Armee Europas geht es um Schafe, die zur Schlachtbank getrieben werden, eine Wehrpflicht-Que­rele innerhalb der Allianz für Deutschland, um die Verfassungsrichterinnenwahl, den Boom der deutschen Rüstungsindustrie, das Gipfeltreffen in Alaska, den Verfall eines bürgerlichen Viertels in Köln, um den Mossad und den 11. September 2011, um die zwei Gesichter des Peter Thiel, die Herren der Welt, diesmal nicht das Weltjudentum, sondern tatsächlich die Hitliste der Milliardäre, eine Debatte um das Reizwort Remigration zwischen Jürgen Elsässer und Martin Sellner und um ein paar Impressionen vom Compact-Fest. Man sieht: Es ist unnütz und albern, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen; da interessiert es mich fast noch eher, was der Kopp-Verlag, der nicht nur sämtliche Börsenkatastrophen und Anlegerschnäppchen der westlichen Welt seit zwanzig Jahren treffsicher vorhersagt, sondern eben auch das Compact herausgibt, was also der Kopp-Verlag mir neben dieser Zeitschrift noch empfiehlt: Mystery! In der Ausgabe Nr. 5 vom September/Oktober 2025 kann man unter anderem lesen: Das Rätsel der Chemtrails, Neues zu den Himmelsstreifen: Wettermanipulation und Wetterwaffen, das alles sind keine Märchen oder Verschwörungsmythen, sondern Fakten. Oder: Mysterien unter dem Sand: Das Gizeh-Rätsel mit Beweisen für ein tiefes Untergrundsystem unter den Pyramiden. Oder: Wer sind die Lake Baikal Swimmers? Im Jahr 1982 sollen Taucher im Baikal-See von bizarren Unterwasser-Wesen angegriffen worden und dabei zu Tode gekommen sein. Für unsereins besteht das Rätsel eher darin, wie Taucher im Baikal-See plötzlich zu Lake Baikal Swimmers werden. Aber ganz radikal geht es wohl im Beitrag «Verlorene Zivilisation unter unseren Füßen? Tartaria und die Schlammflut-Theorie: Ist unsere Geschichts­schrei­bung eine einzige, große Vertuschungsaktion? Und war eine Schlammflut das Mittel der Wahl, um alles zu beerdigen, was nicht ins Schema passte?» – An diesem Punkt muss ich die Segel streichen, davon habe ich derart radikal nichts gehört bisher, dass ich mich nicht einmal darüber lustig machen kann. Solche Lektüre kann man nur empfehlen, und zwar einem Zielpublikum, das sich in Richtung Demenzstation und eben sowieso Allianz für Deutschland und National­sozia­list­i­scher Untergrund bewegt. Dass Compact in Verbund mit Mystery empfohlen wird, lässt den neugierigen Rechtsradikalen aufhorchen; für unsereins dagegen ist das derart jenseitig – also mysteriös –, dass wir uns doch nicht zum Kauf entschließen, weder des einen noch des anderen Erzeugnisses aus dem Kopp Verlag, und nur folgern, dass es in den Köpfen von Rechtsradikalen ähnlich mysteriös zugeht wie in jenen von UFO-loginnen; Hände weg!, sagt der Hausverstand, und das tue ich nun sofort.

Allerdings sieht der Hausverstand auch im unauffälligen Bereich des politischen Spektrums, also dort, wo sich die Argumentation und der Denkprozess noch an die Normen halten, keine besonders erhellende Perspektive. Links und Rechts sind bei der Formulierung und Einhaltung ihrer Wahl­pro­gramme rundum unglaubwürdig. In dieser Beziehung ist der bayrische Ministerpräsident den anderen weit voraus, indem er sich einfach durch die Welt der Schweinebraten, Hamburger und Augs­burger Semmelwürste frisst. Abgesehen von der Ernährungsmethode und dem radikalen Fehlen jeglichen Zusammenhanges mit Politik kann daran nichts falsch sein. Die Linke dagegen, deren Vorschläge selbstverständlich vernünftig tönen und vernünftig sind, zum Beispiel eine Reich­tums- oder Reichensteuer, hat den einen, nicht unbedeutenden Mangel, dass keinerlei Aussicht dar­auf besteht, dass ein solches Programm in eine politische und gesellschaftliche Realität umsetzen kann. Beide Wege sind ihr verschlossen, sowohl die Eroberung von Mehrheiten in den Parlamenten als auch das Schmieden von Koalitionen, welche die Erfüllung der güldenen Programme auf die Schiene bringen würden. So etwas nutzt das beste Parteiprogramm mit der Zeit ab. Immer brav gefordert, niemals in die Nähe der Umsetzung gerückt. Damit will ich nun nicht die gloriosen Zeiten schlecht machen, in welchen der Freistaat Thüringen von einem Ministerpräsidenten der Linken regiert wurde, wenn auch von einem Realo; da gibt es nach wie vor erhebliche klimatische Unterschiede, und Bodo Ramelow hat auch bewiesen, dass es nicht ganz unmöglich ist, als politische Figur aus der Linkspartei in höhere Ämter zu gelangen. Das hat aber noch nichts zu tun mit der Umsetzung eines Programmes. Vielleicht, schließt der Hausverstand, ist die Zeit vorbei, in welcher solche Programme noch auf die gesellschaftliche Realität gerichtet waren, vielleicht oder wahrscheinlich geben sie nur noch die Richtung an, in welche die Parteisoldatinnen mit millimeterkleinen Schritten vorwärts gehen.

Andere Zeiten also. Einen Hinweis darauf gibt die Regierung Meloni in Italien. Es handelt sich um die stabilste Regierung des neuen Jahrtausends in diesem Land, dessen politische Kultur nach wie vor vom Erbe der alten Römerinnen geprägt ist. Giorgia Meloni ist mit rechtsextremen Schlacht­rufen an die Macht gekommen, vergleichbar vielleicht eurem früher radikal-sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder, um jetzt mit einem stabilen rechtsbürgerlichen Lager die gleiche sozialdemokratische Politik zu betreiben wie alle anderen Ländern Europas. Die internen Querelen gibt es sicher auch zwischen Postfaschisten, Salvinistinnen und der italienischen Deutschland-über-alles-Partei, also der Forza Italia, aber die zuständigen Damen und Herren hüten sich davor, sie richtig zum Ausdruck kommen zu lassen, da sie wissen, dass sie nie mehr im Leben eine ähnlich komfortable Position mit Positionen, die sie zu vergeben haben, einnehmen werden, das wollen sie nicht aufs Spiel setzen. In dieser Beziehung ist Giorgia Meloni eine Wohltat, wenn man sich an die Zeiten von Massimo D’Alema oder Matteo Renzi oder ein paar weiteren Saftnasen von den Cinque Stelle, vom Partito Democratico, aber auch von der ein bisschen weiter links politisierenden Linken erinnert. Selbstverständlich muss man die zwischenzeitlichen rhetorischen Ausbrüche nach rechts verdauen, aber im Großen und Ganzen schlägt sich Frau Meloni ganz anständig, und niemand nicht hat den Verdacht, dass die italienische Armee demnächst wieder in Abessinien einfallen wird oder Libyen mit Senfgas bombardieren wird. Die Verwandlungen im Mediensektor sind auch dort zu beobachten, selbstverständlich, wie könnte es anders sein; angesichts dieser Tendenzen stellt sich übrigens echt die Frage, was Pier Silvio Berlusconi mit ProSieben.Sat1 anstellen will. Es herrscht Übereinstimmung darin, dass mit konventionellem Fernsehen kaum mehr Geld zu verdienen ist, mindestens so lange, bis sich neue Strukturen konsolidiert haben, will sagen, bis man ungefähr beobachten kann, welche Gewohnheiten des Medienkonsums sich nach dem Abschalten der Babyboomer herausbilden werden, also in etwa zehn Jahren. Die Werbegelder, welche dieses Format im Privat-TV bisher am Leben gehalten haben, während es beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen die Gebühren waren und sind, die werden in nächster Zeit nicht massiv zurückkehren, weshalb also die internationale Expansion von Pier-Silvio? Tatsächlich habe ich etwas von einer Vision eines gesamteuropäischen Fernsehkanals gelesen, sozusagen ein Arte, einfach mit Dummquatsch und nackten Busen anstelle des doch ziemlich anständigen Angebotes des französisch-deutschen Kultursenders. Dazu benötigte Pier-Silvio aber die Unterstützung durch die Politik, welche Arte im Moment zweifellos noch genießt. Vielleicht ist es den Merzens und Macrons mit der Zeit doch zu viel, was Arte an Qualität in ein vergleichsweise kleines Publikum pumpt. Vielleicht aber auch nicht; sowohl für Macron als auch für Merz bildet Arte nach wie vor eine Trumpfkarte im Wettbewerb mit privaten TV-Interessen, die gerade in Frankreich immer ausgeprägter nach rechts tendieren mit dem alten Lackaffen Vincent Bolloré und seiner Vivendi beziehungsweise Canal+. Aber die relevante Bewegung ist jene von den starren Fernsehformaten hin zu den beweglichen kleinen Formaten im Internet, welche nicht nur von der Allianz für Deutschland eifrig genutzt werden; im Alltag scheinen die sozialen Netzwerke den höchsten Nutzen beziehungsweise Unterhaltungswert zu versprechen, was den Intelligenzquotienten aber eher unterhalb der Grenzwerte anspricht wie Gürtellinie oder Alterslimite.

Der Ausgang dieser Entwicklung ist für mich noch unbedingt unklar. Vielleicht entstehen mit den stets wachsenden Möglichkeiten der Digitaltechnik am Schluss sogar noch individuell maßgeschneiderte Informations- und Unterhaltungsangebote, welche sich zu Beginn noch bei mehr oder weniger anerkannten öffentlichen Kanälen bedienen, die aber je nachdem die Informationen und Unterhaltungen auch vollständig auf die Befindlichkeit des Individuums abstimmen, wie die Digitaltechnik sie aus seinen Social-Media-Posts und Seh-, Hör- und Konsumgewohnheiten errechnet. Dann wird ein kleiner Teil der Bevölkerung tatsächlich die Nachrichten über Tartaria verfolgen. Die Amazon-Webseite verspricht das umfassende Vergnügen mit folgender Ankündigung: «Es gibt viele Menschen auf der ganzen Welt, die die Weltgeschichte in Frage stellen, und viele Forscher haben gezeigt, dass die Weltgeschichte eine totale Lüge ist. (…) Dieses Buch zeigt einige der Forschungen, die Anatoly Fomenko und andere in Bezug auf die Weltgeschichte durchgeführt haben, und fasst zusammen, was sie herausgefunden haben, um Ihnen die Entscheidung zu erleichtern: – Ist Geschichte eine Lüge?» Zwar dämpft Amazon die Erwartungen mit dem Hinweis, dass das Taschenbuch nicht in Farbe gedruckt sei, um es günstig zu machen. «Farbbuch verfügbar, aber kosten mehr drucken», steht da. Die Wikipedia ergänzt: «Das Tartarenreich bezieht sich auf eine Gruppe pseudohistorischer Verschwörungstheorien, darunter Vorstellungen von einer verborgenen Vergangenheit und Schlammlawinen, die ihren Ursprung im pseudowissenschaftlichen russischen Nationalismus haben.» Und wem Tartaria nicht reicht, der kann sich sein ganz persönliches verschwörungstheoretisches Universum liefern lassen mit der Santscha Pantscha wahlweise als Drachen oder als Ritterin Giorgia.




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Albert Jörimann
09.09.

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