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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Skalenerträge
Ein Herr Gerald Braunberger stellt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 27. Oktober 2025 Überlegungen an zum Stand der Europäischen Union unter den Titel «Europa verliert den Anschluss durch politische Lähmung». Bei diesem Herrn handelt es sich um einen der Herausgeber dieses Blattes, er ist dort seit dem Jahr 1988 tätig, was in Summe und auch in Teilen 37 Jahre ergibt; wie sich dies gehört nach so langer Zeit als, wie ich annehme, einer der Hohepriester der Lehre von der Freien Marktwirtschaft, hat er im Jahr 2024 den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik erhalten.

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Bei dieser Gelegenheit fällt mir übrigens ein, dass ich am Wochenende einen anderen Ökonomen beobachtet habe bei einem Rückfall in eine frühere Phase der Volkswirtschaftslehre, indem er etwas von Economies of Scales erzählt hat, Skalenerträge, die daraus entstehen, dass man bei geschickter Organisation und Arbeitsteilung und Konzentration auf weniger Standorte größere Stückzahlen zu tieferen Kosten produzieren kann. Bei Rudolf Minsch handelt es sich um den Chefökonomen des Dachverbandes der Schweizer Wirtschaft, und von den Skalenerträgen erzählte er deshalb, weil die Lastwagenhupe mit ihren Zöllen gerade diesen zentralen volkswirtschaftlichen Baustein zertrümmert hat beziehungsweise versucht, ihn zu zertrümmern oder vielleicht korrekter, Krach macht damit, wie es sich halt für eine Lastwagenhupe gehört. Aus dem Jammern von Rudolf Minsch über diesen Verstoß gegen die Volkswirtschaftslehre hörte man das Jammern der Schweizer Wirtschaft wegen der Strafzölle von 40% heraus, aber trotzdem fiel auf, dass Rudolf Minsch wie die Lastwagenhupe eine strahlend rote Krawatte um den Hals trug, die ihm bis auf die Hodensäcke über die Hosen hing. Ich benutze die Gelegenheit, um die Abteilung Skalenerträge in der Volkswirtschaft mit dem Hinweis zu ergänzen, dass sie von einem bestimmten Kipppunkt an nicht weiter steigerbar sind. Die Wirtschaft funktioniert produktiv nur dann, wenn konsumptiv auch etwas verkauft werden kann, und hier eröffnet sich die ganze Palette zeitgenössischer volkswirtschaftlicher Fragen: Wie kann Kaufkraft geschaffen werden? Auf die Beantwortung kann ich hier verzichten, nicht zuletzt mit dem Hinweis, dass dies in den letzten dreißigtausend Jahren immer wieder geschehen ist und auch in den letzten Entwicklungsstufen des Kapitalismus immer wieder beobachtet wurde: Kaufkraft entsteht, das ist eine Tatsache, sei es durch die Eröffnung neuer Paarungen in Produktion und Verbrauch, beispielsweise durch die Erschließung der Tierliebe in achtsamen Menschen mit der Kommerzialisierung, will sagen dem Aufbau entsprechenden Bedürfnisse und ihrer Befriedigung durch eine spezialisierte Industrie. Kaufkraft wird auch geschaffen durch Halluzinationen, zum Beispiel in der Form von Markennamen; die Schuhherstellerin Adidas erzielt auf dem Markt zehnmal höhere Preise für ihre Produkte als No-Name-Erzeugnisse mit exakt den gleichen Eigenschaften, was nicht mit Skalenerträgen, sondern mit Marketinganstrengungen und dem dazu gehörigen Apparat in Verbindung zu bringen ist. Ich möchte behaupten, dass der ökonomische Bereich zwischen den reinen, ertragsskalierten Produkten und den anderen, durch Marken oder sonstwelche Renommees aufgeblähten Dingen des täglichen Verbrauches unterdessen einer der wesentlichen Wirtschaftsmotoren geworden ist, und in diesem Bereich funktionieren verschiedene Unterbereiche, zum Beispiel die Kleinbrauereien, welche mindestens bei uns in den letzten zwanzig Jahren aus dem Boden geschossen sind wie Spargel im Frühsommer. Auch zahlreiche Lebensmittel aus dem Bio-Sektor lassen sich verkaufen. Zwar spottet man nach wie vor über die Grünen als Bioprodukte-Konsumentinnen zu überteuerten Preisen, namentlich der Gassenkomiker Markus Söder in seinen Instagram-Beiträgen, wo er Hamburger verspeist mit all den Giftstoffen, welche die bayrische Landwirtschaft am Leben halten. Aber das ist eine reine Augenwischerei. So wie das Bier aus Kleinbrauereien, welches der gleiche Söder im nächsten Instagram-Video dann auch wieder angeblich mit Genuss säuft, obwohl gar keine Giftstoffe drin sind, so bilden auch die Bioprodukte schon längstens einen tragenden Pfeiler der Landwirtschaft. Und die wirtschaftliche Grundlage dafür bildet eben das Ende der Skalenerträge. Von einem gewissen Punkt an geht es nicht mehr billiger, und was den Landwirtschaftssektor angeht, so heißt dieser Punkt auch heute noch Tönnies, wenn ich mich nicht irre. Die haben sich übrigens in diesem Jahr endlich einen neuen Namen gegeben, nämlich Premium Food Group. Ich empfehle an dieser Stelle den entsprechenden Wikipedia-Artikel, das ist sehr aufschlussreich. Darum geht es hier aber nicht, sondern darum, dass man heute eben nicht mehr den guten alten Zeiten nachtrauern sollte, in welchen noch jede Studentin der Wirtschaftswissenschaften eine Seminararbeit zu Skalenerträgen schreiben musste.
Europa verliert also den Anschluss durch politische Lähmung, schreibt Gerald Brandenberger am 27. Oktober 2025, und ich gehe jede Wette ein, dass er den gleichen Artikel schon am 24. Oktober 2024, am 23. Oktober 2023, am 22. Oktober 2022, am 21. Oktober 2021 – nein, damals war ja Pandemie, da war Europa anderweitig gelähmt, aber wie auch immer, er hat diesen Artikel einmal geschrieben und publiziert ihn seit dem Beitritt Polens zur EU alljährlich immer wieder. Und es stimmt ja auch: Wann war Europa je nicht gelähmt? Vielleicht unter Adenauer und De Gaulle? Unter Hitler? Unter Napoleon? Kaiser Karl dem fünften? Unter Karl dem Großen? Man kann sich aussuchen, wen man will, man muss einfach festhalten: Europa ist nichts als ein anderer Name für eine große Lähmung, mindestens wenn man sich ein schlagkräftiges, innovatives, modernes und zukunftsgerichtetes Europa als Idealzustand vorstellt, also ohne lähmende Gifte wie zum Beispiel Markus Söder oder Urban Orban oder die Querelen in Frankreich. Aber dieser Idealzustand muss ein Ideal bleiben, also ein nicht erreichbares Ziel. In der Zwischenzeit muss man auch in Europa die Räume ausnützen, welche nach der Vollendung der Skalenerträge entstanden sind, die man sich aus dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluss erhoffte.
Es liegt in der Natur der Sache, dass ich die Einschätzung von Gerald Brandenberger nicht teile. Jene Kräfte, auf die es wirklich ankommt, nämlich die nicht künstliche Intelligenz in Wirtschaft und Gesellschaft, sind in ganz Europa nach wie vor gut ausgebildet; es geht nur darum, sie in einer produktiven Form weiter zu entwickeln. Im Moment sind Datenverarbeitungs- und -speicherzentren in aller Munde; wohlan, ans Werk! Ich glaube, daran wird überall ziemlich tüchtig gearbeitet. Bei der Herstellung von Chips muss man am Ball bleiben; die Fähigkeiten und das Fachwissen müssen aber nicht erst in umständlichen Prozessen nachgeholt werden. Man muss es einfach machen, und vermutlich geschieht all dies hinter den Kulissen auch, und zwar ohne großes marktschreierisches Auftreten, was sich in der Ära der Lastwagenhupe auch empfiehlt, nachdem man gesehen hat, dass diese Vuvuzuela die Kanadierinnen mit Zusatz-Strafzöllen belegt hat, nachdem diese eine Rede des früheren Präsidenten Ronald Reagan zum Thema Zölle aus dem Archiv geholt und aufgeschaltet hatten. Eben, ich gehe davon aus, dass auch in Europa mit Energie und Sachverstand an der Einführung der nächsten Stufe des Kapitalismus gearbeitet wird. Neben der Rüstungstechnik beziehungsweise im Verbund mit ihr geht es auch um die Weltraumtechnik, wo die Deutschen, die Französinnen und die Italienerinnen bei allem Hickhack doch gelegentlich zu einer gemeinsamen Lösung finden werden. Das ist zwar doof, weil man eigentlich das Netz von Elon Musk benutzen sollte, soweit dieses technisch ausreicht, um die Kommunikationsbedürfnisse abzudecken; aber da dieser Musk nun mal geistig zwei Phasen kennt, nämlich Geistesblitze und Umnachtung, muss man wohl ein paralleles Netz errichten, und daran scheint man sich nun wirklich machen zu wollen.
Die Europäische Union ist zweifellos ein sklerotisches Gebilde, dessen Probleme nach wie vor aus der Integration der Länder, Wirtschaften und Kulturen des ehemaligen Ostblocks entstehen, abgesehen von der Desintegration der Engländerinnen, die man erstaunlich einfach verkraftet hat. Der Osten dagegen hat nicht nur den Ukraine-Krieg eingebracht, sondern auch andere Mechanismen, die ich nicht mal im Detail kenne und die übrigens auch nicht zwingend schlecht zu sein brauchen, nur weil sie gegen ein paar volkswirtschaftliche Grundsätze verstoßen. Trotzdem hoffen wir, dass irgendwann einmal diese große gegenseitige Kennenlernphase abgeschlossen sein wird. Wenn ich es mir einfach mache, verknüpfe ich dies mit dem Ende des Ukraine-Kriegs. Sollte dessen Form tatsächlich den Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union bringen, so verlängert sich die Krise im Osten um einen unbestimmten Zeitraum. Dafür weiß man dann vielleicht in Frankreich, wer ein paar brauchbare Spielregeln für den Umgang mit den Staatsfinanzen anzubieten hat. Im Moment rufen alle einfach mal Nein, Nein, Nein, die Gelbwesten und die Gewerkschaften mobilisieren im Zeichen des großen Neins alle paar Wochen die Massen, während die Nationale Front immerhin einen Vorschlag präsentiert hat, wie man 50 Milliarden Euro im Staatshaushalt einsparen könnte. Laut der Zeitung «Le Monde» handelt es sich allerdings um reine Luftkalkulationen, aber immerhin. Irgendwann im Leben jeder Bewegung kommt der Moment, in dem ein permanentes Nein nicht mehr weiter reicht. Asterix und Obelix waren immerhin noch in der Lage, ihre Lebenshaltung durch die Jagd von Wildschweinen und Römern selbständig zu regeln. Dass Frankreich über diese historische Phase hinaus ist, müsste bei Gelegenheit auch ins Gehirn und Gedärm der unbeugsamen und ununterwerfbaren Gallierinnen von La France Insoumise eindringen. Anzeichen dafür habe ich allerdings bisher noch nicht bemerkt.
Es ist wirklich ein Dilemma: Wenn man 50 Jahre lang keine sozialistische oder kommunistische Revolution zuwege bringt, dann muss das doch seine Gründe haben. Man kann so etwas nicht einfach mit einer Verschwörung der herrschenden Klassen begründen, die haben eben einen ansehnlichen Rückhalt in der Bevölkerung, vor allem wohl deshalb, weil sich diese Bevölkerung nicht auf ein Abenteuer mit ewigen Neinsagern einlassen will. Und deshalb kann man von einem gewissen Zeitpunkt an auch niemandem mehr empfehlen, solche Bewegungen zu unterstützen. Vielmehr muss man sich an den Aufbau einer Bewegung machen, welche eine Vorstellung entwickelt von einer modernen, gerechten, freien Gesellschaft im Zeitalter jenseits der Skalenerträge, das heißt, in einem Zeitalter, in dem niemand mehr den Scheißfood essen muss, den uns der Söderpampel täglich vorführt, sondern in dem die eigentlich gleichen Nahrungsmittel verspeist werden, die aber im Falle von Fleischprodukten von Tieren stammen, die in halbwegs anständiger Art und Weise gehalten wurden. Wenn das etwas teurer wird, ist das in Ordnung. Und wenn das die Ärmsten der Armen nicht zu bezahlen vermögen, dann setzen wir entweder das Bürgergeld hinauf oder aber die Subventionen für Landwirtschaftsbetriebe, welche mit Vernunft und Anstand produzieren. Das Geld dafür wird sich leicht finden lassen, beziehungsweise es gehört ebnen zu den Arbeiten einer solchen neuen Bewegung, dass man die Finanzierung des ganzen Projektes mit und zuvörderst überlegt.
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Albert Jörimann
28.10.