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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Der bulgarische Wurst-Olymp
Alle Weltreisenden wissen, dass alle Dinge in verschiedenen Weltregionen unterschiedlich viel kosten. In Darfur ist ein volles Menschenleben im Moment offenbar weniger wert als nichts, aber mir geht es eher um Konsumgüter. Eine Orange zum Beispiel kann von einem Stotinka in Bulgarien bis zu 5 Euro, also recht genau das Tausenfache, in einem Bioladen in Stuttgart kosten, wobei ich das bulgarische Beispiel in erster Linie deswegen hier aufführe, weil dort vom 1. Januar nächsten Jahres an der Lew verschwindet; an seine Stelle tritt der Euro.

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In zweiter oder dritter Linie ist mir Bulgarien im Moment präsent, weil ich soeben eine Sammlung von Kurzgeschichten eines Herrn Wassil Georgiew gelesen habe, in welchen es unter anderem um die Vergöttlichung von Wurstwaren als einen Kern der kommunistischen Ideologie geht. Ich darf eine kurze Passage zitieren: «So hätten die Kommunisten als höchste Gottheiten des sozialistischen Gastronomiepantheons den Sudzuk (also eine trockene, gewürzte Rohwurst) und die Lukanka {eine halbgetrocknete Gewürzwurst) an die Spitze der Wunschpyramide des sozialistischen Menschen gesetzt. Die beiden hätten als der männliche und weibliche Beginn des höchsten kulinarischen Erlebens, als Jesus und die heilige Maria des Glaubens in das gastronomische Ideal gegolten.» Und ein paar Zeilen weiter unten: «Als Kronen der Schöpfung hätten die Lukanka und der Sudzuk die ganze Wurstwarenindustrie erschaffen und eine neue Ordnung darin etabliert. Der Wurstaufstrich «Zakuska», der Cervelat «Burgas» und die Speckwurst (…) trugen als solche zwar den höchsten göttlichen Funken der reinen Lukanka und des Sudzuks in sich, enthielten aber, wegen ihrer kürzeren Reifedauer, ein Mehr an Speck und ein Weniger an Weisheit. Darauf hätten sie die gekochten Würste erzeugt, die Hamburgerwurst, die Geflügelwurst und so weiter, mit einem immer geringeren Gehalt an göttlicher Materie, bis an ihr Ende, wo die Welt der Leckerbissen die chthonischen Untiefen der Blutwurstwaren erreichte, der Sülze und der Kutteln – eklig, aber immerhin um einiges schmackhafter als das Brot vom Anfang, für welches die Kommunisten bis zum Umfallen gekämkpft hatten. Lasst es euch schmecken, Genossen!» – Und nach diesem Zitat möchte ich noch den Hinweis platzieren, dass der Name Lukanka zweifellos auf die erste bekannte Bezeichnung für eine Wurst zurückgeht, nämlich die römische Lucanica, was auf die ehemalige römische Provinz Lukanien verweist, in welcher offenbar ernstzunehmende Wurstwaren hergestellt wurden. Und so heißen sie in Bulgarien Lukanka, in Griechenland Lucanico, und sogar im Tessin werden bis heute die famosen Luganighe gefertigt. So oder so: Der Humor von Wassil Georgiew gefällt mir, ich möchte sagen: Wassil Georgiew ist mein Freund.
Das wiederum hat nichts zu tun mit den gewaltigen Preisunterschieden, welche die Weltreisenden auf ihren Reisen durch die Welt durchfahren können wie Klimazonen, vom Brot über die Wurst bis hin zu Automobilen. Das wissen wir, darüber wundern wir uns und, soweit wir Weltreisende sind, darüber freuen wir uns auch, weil die Preise an den meisten Orten auf der Welt tiefer sind als bei uns, aber insgesamt sind das doch eher rätselhafte Erscheinungen auf einem Planeten, auf dem dauernd vom Weltmarkt gefaselt wird, wobei der sicher nicht in erster Linie Wurst und Orangen umfasst, aber trotzdem. Anderseits ist das Phänomen schon so alt, dass wir uns daran gewohnt haben. Nun tritt aber eine Steigerung auf den Plan, die mindestens mich überrascht. Das überrascht mich wiederum nicht, also dass es immer wieder Überraschungen gibt, ist mir wohl bekannt, ich möchte von diesem System auch nichts anderes erwarten. Im Moment jedenfalls runzelt sich meine Stirn äußerlich und mein Frontallappen inwendig über die Explosion der Kapitalsummen, mit denen in den Vereinigten Staaten um sich geworfen wird, wobei es sich im Moment noch um Investitionsprojekte und anderweitige Futures handelt, vor allem rund um den Bau von Datencentern und Chipsfabriken, aber dennoch. Vor zwei Jahren war noch die Rede von Milliardeninvestitionen in Europa, unter anderem in Brandenburg von Intel; heute macht es in den Vereinigten Staaten niemand mehr unter ein paar hundert Milliarden. Der oberste Scherzkeks in diesem Land, der Testla-Bauer und Zerstörer der US-amerikanischen Bürokratie Elon Musk, verlangt für sich vorsorglich schon mal eine Billion US-Dollar, ich weiß gar nicht mehr ob als einmalige Entschädigung oder ob als Jahresgehalt, es ist eh alles schon egal. Klar, die Ausschüttung ist an das Erreichen gewisser Unternehmensziele gebunden, aber vermutlich ist sie eher an das Vorhandensein von genügend Klein- und Großgeld gebunden, die Unternehmensziele werden wir dann schon irgendwie zuwege schustern, damit dieser weiße Wirtschaftsflüchtling aus Südafrika seine Entschädigung kriegt. Auf der anderen Seite des Atlantiks zerreißt sich zum Beispiel Frankreich ob seinen 3 Billionen Staatsschulden, für deren Verzinsung unterdessen mehr Geld aufgewendet wird als für das Militär. Nur Randnotizen sind die Tatsachen, dass in Frankreich in den letzten Jahrzehnten die Schulden nur dann abgebaut wurden, wenn ein Sozialist Staatspräsident war, sagen wir mal mit Ausnahme des ersten Sozialisten François Mitterrand; die bürgerlichen Staatspräsidenten haben stets für eine Zunahme der Verschuldung gesorgt, im Moment vor allem Emanuel Macron mit seinen Steuergeschenken für die Reichen. Die Linken wollen das mit einer Reichensteuer korrigieren; die Realistinnen schätzen den Ertrag aus solch einer Steuer auf gut 10 Milliarden Euro. Zum Vergleich: François Bayrou wollte die Ausgaben um 40 Milliarden senken und wurde mit diesem Projekt seinerseits versenkt. Die Reichensteuer, mit anderen Worten, bringt zwar durchaus einige Mehreinnahmen, aber am Grundproblem mit der Verschuldung ändert sie nichts. Während, wie gesagt, auf der anderen Seite des Atlantiks die Investorinnen mit hunderten von Milliarden herum werfen wie nichts.
Zugegeben, die Skepsis wächst; immer mehr Menschen trauen dem Optimismus nicht so recht, der im Zusammenhang mit der Künstlichen Intelligenz ausgebrochen ist, und sprechen von einer Blase. Das mag sein, vielleicht wird da bei Gelegenheit mal Luft abgelassen, vielleicht auf einen Schlag, vielleicht nach und nach. Jedenfalls geben sich auch die Börsen in den Vereinigten Staaten Mühe, mit dem wunderbaren Optimismus Schritt zu halten; der Standard&Poor’s-500-Index hat seit Jahresbeginn um 16% zugelegt, wobei die Aufwärtsbewegung hier schon länger anhält; in den letzten 4 Jahren betrug die Zunahme 50%, in den letzten 5 Jahren 110% und in den letzten 10 Jahren 230%. Das Bruttoinlandprodukt der USA nahm in den letzten 5 Jahren im Durchschnitt um 4% zu, was zusammen etwa 25% ergibt. Die Börsen kümmern sich mit anderen Worten keinen Deut mehr um die Realwirtschaft. Das wiederum ist keine Überraschung, das kennen wir schon länger; trotzdem gibt es auch hier noch Unterschiede, und was sich im Moment abzeichnet, sei es an der Börse, sei es bei den globalen Riesen der Digitalindustrie, erscheint mindestens so lange als unwirklich, bis wir uns daran gewöhnt haben.
In Deutschland besteht die öffentliche Debatte im Moment zur Hauptsache aus Theaterkritik; nämlich streiten sich die Feuilletons darüber, welche Qualitäten die Darbietung der Regierungstruppe hat und welche nicht. Hin und wieder erhalte ich am Computer Einspielungen des Springer-Rechtsablegers Nius, welche mit Inbrunst ein Versagen aller vitaler Organe des deutschen Staates diagnostizieren, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Ich habe den Eindruck, dass auch der Rest der Medienlandschaft unter dem Einfluss dieses dementen Sendeportals steht, das, wie sie wohl vermuten, mehr oder weniger die Volksmeinung gemäß der Allianz für Deutschland widerspiegelt. Das glaube nun ich wiederum nicht. In der Praxis erleben wir gerade den Rück- und Umbau der Automobilindustrie, natürlich nicht nur in Deutschland, aber da ihr euch entschlossen habt, euer Schicksal an diesen Sektor zu hängen, trifft es euch nun härter als andere Weltgegenden. Diesen Rückbau versuchen nicht nur das Portal Nius und die Allianz für Deutschland, sondern auch andere Tropenköpfe wie der bayrische Ministerkasper der Politik in die Schuhe zu schieben und dort natürlich vor allem all jenen, die nicht Markus Söder oder Allianz für Deutschland oder Springer-Verlag heißen. Das ist allerdings behämmert genug. Tatsache ist, dass der Dax im gleichen Zeitraum, in dem der S&P 500 um über 100 Prozent zugelegt hat, also von 2020 bis 2025, nur gerade die Hälfte geschafft hat. Über zehn Jahre hinaus waren es 100%, während die Amerikaner bei 230% stehen. Der japanische Nikkei-Index schaffte gleichzeitig eine Zunahme um 160%, wobei der Löwenanteil auf dieses Jahr 2025 entfällt, und der Euro Stoxx 50 legte einen Anstieg um 54% hin. Beim schweizerischen SMI begnügt man sich mit einem Wachstum von um die 40% in den letzten 10 Jahren. Wenn wir nun aber von Börsen und Kapitalmärkten sprechen, ist es eine Grundvoraussetzung dafür, dass man die Kapitalmärkte als internationale auffasst. Also muss die Anomalie in der Entwicklung der beiden Seiten des Atlantik irgendwann auch wieder mal eine Korrektur erfahren. Wir werden es erleben. In welcher Verfassung wir es erleben werden, weiß ich nicht.
In verworrenen Zeiten hilft hin und wieder ein Besuch im Kino. Letzte Woche habe ich den brasilianischen Film Tereza – das ultimative Blau gesehen von Gabriel Mascaro, und war ich in letzter Zeit von kaum einem anderen Film derart begeistert wie von diesem. Es geht um eine kleine Dystopie, will sagen, in einem zukünftigen Brasilien, das dem heutigen ausgesprochen ähnlich sieht, zwingt die Regierung die über 77-Jährigen, nicht nur in Rente zu gehen, sondern geradezu in Alten-Konzentrationscamps zu ziehen. Was dort genau geschieht, wird nicht ausgeführt; wir erkennen den salbungsvollen Regierungsjargon, in welchem die Alten für ihre Lebensleistung gelobt werden und mit dem ihnen das Leben in den Altenlagern schmackhaft gemacht werden soll als Erholung vom Stress des normalen Lebens, von anderen Vorbildern her; in der Realität gibt es so etwas wohl eher in Nordkorea als in Brasilien. Tereza jedenfalls entzieht sich der Altenpolizei, die übrigens über Kleinlastwagen verfügt, auf welchen Käfige montiert sind, in denen die widerspenstigen Alten abtransportiert werden, und nur schon diese Käfigwagen sind den ganzen Eintrittspreis wert. Tereza entzieht sich zuächst erfolglos und dann doch erfolgreich und findet ein neues Leben auf den Mäandern des Amazonas oder eines anderen brasilianischen Flusses, was sowieso immer schöne Bilder hergibt. Falls dieser Streifen auch in Erfurt vorbei kommt, empfehle ich ihn hiermit herzlich, im Gegensatz zum neuen Film von Yorgos Lanthimos, Bugonia, den wir mit der Hoffnung auf eine Fortsetzung des fabelhaften Poor Things besuchten; wir wurden enttäuscht. Diese Story weiß nicht so recht, wo sie hin will, und deshalb bleibt vor allem das Stereotyp eines religiösen Fanatikers mit seinem einzigen debilen Anhänger haften. Schade.
A propos Brasilien: Dort findet in ein paar Tagen die Uno-Klimakonferenz 2025 statt, und zwar vermutlich auf jenem Gebiet, das Präsident Lula für Erdölbohrungen frei gegeben hat. Das reiht sich ein in die Liste der Vorgänger-Austragungsorte Aserbaidschan und Saudiarabien. Als es mit Saudiarabien begann, hatte man noch an einen Scherz denken können; jetzt steht es fest, dass diese Konferenzen keinen Scheißdreck gegen den Klimawandel bringen, sie sind nicht mal mehr als Feigenblatt zu gebrauchen. Und bei Präsident Lula wird man vermerken, dass es durchaus keinen Jair Bolsonaro braucht, um den Regenwald zu zerstören, ein einfacher Lula da Silva reicht auch.
Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.
Albert Jörimann
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